Wir wissen von Goethe, dass er im Alter sich weigerte, eine Brille zutragen, um schärfer sehen zu können. Bei zu großer Sehschärfe sähe man viel zu viele Einzelheiten, wodurch das große Ganze aus dem Blick gerate.
Die Ablenkung durch nebensächliche und unwichtige Details verhindere die Konzentration auf das Wesentliche. Mit dieser Meinung stand Goethe zu seiner Zeit nicht alleine. Doch nur wenige Jahrzehnte nach seinem Tod bewunderte man in der neu erfundenen Fotografie gerade ihre Möglichkeit, auch noch die kleinsten Details mit bisher unbekannter Bildschärfe aufzuzeichnen und für den Betrachter wiederzugeben. So konnte er beim ruhigen Studium der Fotografien – gerne auch mit dem Mikroskop – Einzelheiten entdecken, die seinem Blick beim Gang durch die Natur oder durch das Gewimmel der Großstadt stets entgangen waren.
Als wieder einige Jahrzehnte später der deutsche Philosoph und glänzende Kulturkritiker Georg Simmel 1903 seine Abhandlung »Die Großstädte und das Geistesleben« schrieb, diagnostizierte er beim Großstädter seiner Zeit eine »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.
Der Mensch ist ein Unterschiedswesen, d.h. sein Bewusstsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewusstsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfasst, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.
Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens [...] einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.
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Welchen Platz nehmen die »Out of Focus«-Fotografien von Nicole Hollmann in dieser allgemein gewordenen Kultur der Unschärfe ein? Die ›neue Unschärfe‹ in der Fotografie und Malerei, von der Bernd Hüppauf spricht, hat mindestens fünf verschiedene Ursachen: Der sogenannte ›pictorial turn‹, der seit einigen Jahren zu einer kritischen Befragung und Untersuchung der Bilder, sowohl der individuellen als auch der massenmedialen, geführt hat, und zwar sowohl von Seiten der Bildwissenschaften als auch der Künstler; das durch die elektronische Bildbearbeitung erzeugte ›cross over‹ von Malerei und Fotografie in der Kunst der letzten Jahrzehnte, bei dem die Malerei fast immer auch fotografische Verfahren einsetzt und die Fotos mit Grafikprogrammen des Computers bearbeitet werden; die mit dem globalisierten Schwinden des Geschichtsbewusstseins gleichsam als Schwanengesang entstehende Erinnerungskultur, für deren Bildgedächtnis sich verschwommene Abbildungen besonders gut eignen; die omnipräsente Beschleunigung des Personen-, Waren- und Datenverkehrs, die sich in einem erneuten Interesse an Bewegungsunschärfe niederschlägt, sowie das verstärkte Bedürfnis der Zeitgenossen nach Entlastungsfunktionen für ihr überreiztes Nervenleben, wie es Georg Simmel bereits vor mehr als 100 Jahren diagnostiziert hat.
Mir scheint, dass die Großstadtfotografien von Nicole Hollmann vor allem diese Funktion der Entlastung unserer Wahrnehmung und Sinne übernehmen und nicht zufällig ihren Anfang im Strudel der Weltmetropole New York nehmen.
Ihre weichgezeichneten Ansichten des New Yorker Straßenlebens stürzen sich einerseits distanzlos ins Gewühl der Passanten, Verkehrsströme und Großstadtlichter. Zugleich erzeugen das Verschwimmen der Konturen, die Entschärfung der ins Auge stechenden Reize in wolkige Atmosphäre sowie das schimmernde Schmelzen harter und kantiger Formen einen farbigen Nebel voll leuchtender Auren, der für den Betrachter sowohl Distanz als auch Überblick und damit Entlastung schafft. Der rasende Verkehr, das Chaos der geschäftigen Masse kommt zur Ruhe, die hektische Fortbewegung wird umgebildet in ein rhythmisches Pulsieren und Vibrieren des glänzenden Äthers.
Alles schwebt in einer leuchtend farbigen Lösung, gleich einem Traum, in dem sich Heterogenes und Gegensätzliches harmonisch zu einer Einheit verbindet, aber auch im Ungreifbaren verliert.
Wir erleben einen Picturialismus in potenzierter Form, der vor dem Großstadtleben nicht mehr in die überschaubaren und gemächlicheren Gebilde der Kleinstadt und des Landlebens ausweicht, sondern sich im Zentrum des Tornados positioniert.
Ohne Megalopolis und die sich hier aufdrängenden Impressionen wären diese unscharfen Aufnahmen von Nicole Hollmann kaum entstanden. Sie bestätigen die von Ludwig Wittgenstein in seinen »Philosophischen Untersuchungen« im §71 gestellte Frage: »Ist das unscharfe Bild nicht oft gerade das, was wir brauchen?«
Hubertus Gaßner
Kunsthistoriker und Kurator sowie Autor und Herausgeber kunstwissenschaftlicher Publikationen.
1981-1991 war er Assistenzprofessor für Kunstgeschichte an der Kunsthochschule Kassel. 1971-1981 war er aktives Mitglied in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Berlin; Organisation zahlreicher Ausstellungen.1989-1992 leitete er das documenta Archiv in Kassel.1993-2002 war Hubertus Gaßner Hauptkurator im Haus der Kunst in München, 2002-2005 Direktor des Museum Folkwang in Essen. 2006 - 2016 Direktor der Hamburger Kunsthalle.